Uhl, Alfred (2019): Das Verschleiern von ethischen Fragen in der Suchtforschung. Deutscher Suchtkongress 2019, 16. September 2019, Mainz.

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Abstract

FRAGESTELLUNG: Der Begriff „evidenzbasierte Medizin“ ist aus dem medizinischen Diskurs nicht mehr wegzudenken, was angesichts der Popularität sachlich nicht fundierter und esoterisch geprägter Heilmethoden sehr zu begrüßen ist. Dabei ist der Ausdruck „evidenzbasiert“ allerdings zu einem Qualitätsprädikat geworden, das bestimmten Inhalten oft ungerechtfertigt zugeordnet wird. Der Schwerpunkt des Vortrags bezieht sich auf den Bereich „Alkoholpolitik“, wo regelmäßig eine „evidenzbasierte Alkoholpolitik“ gefordert wird. *** METHODE: Als Grundlage wurden gängige Diskurse zur Alkoholpolitik in Publikationen und Tagungsbeiträgen in Hinblick auf die Forderung nach „evidenzbasierter Alkoholpolitik“ ausgewählt und analysiert. *** ERGEBNIS:
Der Ausdruck „evidenzbasiert“ wird in fachlichen Diskursen in drei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet: erstens als „mittels randomisierter kontrollierter Studien gewonnene Erkenntnisse“, zweitens als „mittels empirischer Forschung gewonnene Erkenntnisse“ und drittens als „Erkenntnisse, die aufbauend auf die besten aktuell vorliegenden Grundlagen gewonnen wurden“. Erstere Bedeutung kann zu Recht einen hohen Geltungsanspruch stellen. Derartige Studien sind im Feld Alkoholepidemiologie allerdings nur selten umsetzbar, weswegen dieser Bedeutung quantitativ nur geringer Stellenwert zukommt. Die zweite Bedeutung schließt zahlreiche Studien und Interpretationen ein, die man als „naiven Empirismus“ qualifizieren kann. Sie kann daher nur sehr begrenzt Geltung beanspruchen. Die dritte Bedeutung des Begriffs ist realistisch und angemessen. Es muss einem aber bewusst sein, dass die beste vorhandene Evidenz in manchen Bereichen sehr dürftig ist und aus „evidenzbasiert“ in diesem Sinn nicht unbedingt ein hoher Geltungsanspruch ableitbar ist. *** DISKUSSION: Mit dem Attribut „evidenzbasiert“ werden also Befunde mit recht unterschiedlichem Geltungsanspruch versehen – wobei auch dort, wo das nicht angemessen ist, der Eindruck vermittelt wird, dass es sich dabei um wissenschaftlich gut gesicherte Erkenntnisse handelt. Zudem ergibt sich bei Verwendung des Ausdrucks „evidenzbasierte Politik“ noch ein zweites gravierendes Problem: Der Ausdruck „evidenzbasierte Alkoholpolitik“ suggeriert, dass Evidenz nicht bloß eine notwendige, sondern eine hinreichende Grundlage für praktische Entscheidungen darstelle. So wird der Einfluss der dahinterstehenden Welt-, Menschen- und Gesellschaftsbilder auf Entscheidungen systematisch verschleiert.

Item Type: Conference or Workshop Item (Lecture)
Subjects: OEBIG > Kompetenzzentrum Sucht
Date Deposited: 23 Mar 2020 19:52
Last Modified: 23 Mar 2020 19:52
URI: https://jasmin.goeg.at/id/eprint/1256