Sagerschnig, Sophie; Grabenhofer-Eggerth, Alexander; Kern, Daniela (2023): Modell für einen verbesserten Zugang zur psychosozialen Versorgung für Kinder und Jugendliche. Gesundheit Österreich, Wien.

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Endbericht_gesamthafte Lösung_2022_bf.pdf

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Abstract

Hintergrund/Aufgabenstellung:
Im Jahr 2014 erfüllte gemäß der Studie „Mental Health in Austrian Teenagers“ (MHAT‐Studie) rund ein Fünftel der 10‐ bis 18‐Jährigen die Diagnosekriterien gemäß DSM‐5 für zumindest eine psychische Erkrankung (Punktprävalenz), und rund 13 Prozent sollten aufgrund deren Schweregrads unbedingt eine professionelle Behandlung erhalten (Wagner et al. 2017; Zeiler et al. 2018). Allerdings wurde knapp die Hälfte der in der MHAT‐Studie solchermaßen identifizierten Jugendlichen bisher nirgends wegen einer einschlägigen Erkrankung vorstellig und suchte keine adäquate Behandlung auf (Fliedl et al. 2020). Zusätzlich sind seit Beginn der COVID‐19‐Krise steigende psychosoziale Belastungen in der gesamten Bevölkerung sowohl in der klinischen Praxis und in Studien als auch in dem durch das BMSGPK initiierten Monitoring der psychosozialen Gesundheit erkennbar, wobei Kinder und Jugendliche zu den psychisch am stärksten betroffenen Gruppen gehören. Eine zentrale Herausforderung ist hier der schnelle und niedrigschwellige Zugang zu psychosozialen Unterstützungsangeboten. Ziel der vorliegenden Arbeit, die vom BMSGPK gemeinsam mit dem Dachverband der Sozialversicherungsträger in Auftrag gegeben wurde, ist es, idealtypische Zugangswege für Kinder und Jugendliche unter Berücksichtigung ihrer Lebensrealitäten (z. B. Schule, Familie) zu definieren. Kinder und Jugendliche bzw. ihre Angehörigen sollen darin unterstützt werden, so schnell und mit so geringem Aufwand wie möglich an den „best point of service“ zu gelangen.

Methoden
Neben der Analyse von Daten der Sozialversicherung zur bisherigen Inanspruchnahme von psychotherapeutischen Leistungen und Leistungen der klinisch‐psychologischen Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen wurden eine Fokusgruppe mit Expertinnen und Experten sowie qualitative Interviews mit Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen zur Erfassung des Status quo der Zugangswege und der psychosozialen Versorgung durchgeführt. Im Fokus der qualitativen Erhebung standen hilfreiche bzw. erschwerende Faktoren und mögliche Verbesserungspotenziale. Parallel dazu wurden ausgewählte Modelle der aktuellen psychosozialen Versorgung von Kindern und Jugendlichen recherchiert und anhand ihrer Stärken und Schwächen analysiert. Die aus den vorhergehenden Arbeitsschritten abgeleiteten Erkenntnisse waren die Grundlage für die Entwicklung eines idealtypischen Zugangsmodells.

Ergebnisse des Interviews
Auf Basis der durchgeführten Interviews mit Fachexpertinnen/Fachexperten, Kindern und Jugendlichen sowie deren Eltern zeigte sich, dass Stigma nach wie vor eine Hemmschwelle für den Zugang zu psychosozialen Unterstützungsangeboten darstellt. Weiters wurde deutlich, dass das mangelnde Wissen über psychische Erkrankungen und deren Behandlungsmöglichkeiten das Ankommen im Hilfssystem beträchtlich verzögert. Wenn es schließlich doch zu einer Kontaktaufnahme mit dem Hilfssystem kommt, ist die Qualität des Erstkontakts von zentraler Bedeutung für den weiteren Behandlungsverlauf. Es sollten so rasch wie möglich entsprechende Behandlungsangebote eingesetzt werden, sonst besteht die Gefahr, die Kinder und Jugendlichen wieder zu verlieren. Das Versorgungssystem ist insgesamt noch zu wenig flexibel und zu wenig auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet. Weiters wurde deutlich, dass Kindergarten und Schule ein zentraler Ansatzpunkt für (mentale) Gesundheitsförderung und die Vermittlung entsprechender Gesundheitskompetenz werden müssen. Das bedeutet auch, dass das dortige Personal im Rahmen der Ausbildung oder von Fortbildungen dazu befähigt werden muss, psychische Probleme zu erkennen und anzusprechen.

Modellentwicklung/Empfehlungen
Zentrale Drehscheibe des empfohlenen Modells sind die zahlenmäßig aufzustockenden und an die Bedürfnisse auch von Jugendlichen anzupassenden multiprofessionellen Einrichtungen (Beratungsstellen/Ambulatorien). Diese One‐Stop‐Shops können entweder direkt aufgesucht werden oder via Vermittlung über Hotlines, den schulischen/außerschulischen, den niedergelassenen und den stationären Bereich oder auch online per Chat erreicht werden. Wer nicht in diesen Stellen beraten oder behandelt wird, wird in der Systemnavigation unterstützt und qualifiziert an den niedergelassenen oder stationären Bereich oder an weitere psychosoziale Angebote weitervermittelt. Nachholbedarf besteht bei den meisten bereits existierenden multiprofessionellen Angeboten in der Bedürfnisorientierung (Öffnungszeiten, Möglichkeit mit Freundinnen und Freunden zu kommen …) und Niedrigschwelligkeit (Beratung ohne e‐card, Chatberatung …) und natürlich in der zahlenmäßigen Verfügbarkeit. Abgesehen von Ausbau und Adaption im Bereich der multiprofessionellen Angebote werden in folgenden Bereichen
Handlungsnotwendigkeiten gesehen: (1) Ausbau der Sachleistungsversorgung mit Psychotherapie, klinisch‐psychologischer Behandlung, kinder‐ und jugendpsychiatrischer Behandlung sowie Home‐Treatment (2) Ausbau der schulischen Unterstützungssysteme (3) Ausbau von Telefon‐ und Chatberatung (4) Kompetenzsteigerung bei Fachleuten (5) Erhöhung der psychosozialen Gesundheitskompetenz in der Gesamtgesellschaft (6) Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen

Item Type: Monograph (Project Report)
Uncontrolled Keywords: psychosoziale Versorgung, Kinder und Jugendliche, Psychotherapie, multiprofessionell, Zugang
Subjects: OEBIG > Psychosoziale Gesundheit
Date Deposited: 15 Jun 2023 08:34
Last Modified: 16 Sep 2024 12:13
URI: https://jasmin.goeg.at/id/eprint/2874